Das (Un)Ding mit den KOMPLIMENTEN

Immer wieder stößt ein anonymer Arsch von hinten gegen mich. Dieses Angebumse bringt mich in regelmäßigen Abständen aus der Balance, sodass sich mein Gewicht von den Absätzen auf die Zehenspitzen verlagert und ich nach vorne pendle. Hinein in das Rudel, dem ich beiwohne. Durch die Vorwärtsbewegung kann ich Wortfragmente aufschnappen, die es mir erlauben mich wenigstens partiell an der Konversation zu beteiligen. Sobald ich wieder eine stabile Position eingenommen habe, lächle ich und nippe am Batteriesäurechampagner, Jahrgang 2017.

Ich fange an mich zu fragen, ob es den restlichen Anwesenden so ergeht, wie mir, die Lärmkulisse eigentlich ein Strudel aus Geständnissen über mangelnde Hygiene und Sexvorlieben ist und das alles unbewusst, nickend, grinsend zur Kenntnis genommen wird. Dieser Vorgang wiederholt sich so lange dauerschleifenartig, bis mich jemand am Arm berührt. Ich weiß nicht, woher er kommt, noch wie er es zu mir geschafft hat. Vielleicht ist er ein moderner Jesus, der über Menschenfluten laufen kann. Seine sich überkreuzenden Augen-Blicke lassen jedenfalls erahnen, dass er mir gerne etwas mitteilen würde.

„Iss wolla dia nur sagn,
dassu wunnnaschön bisst.“

Er sieht gut aus und freut sich, wie ein verdammtes Schnitzel. Ich, auf der anderen Seite der Schallmauer, versuche zu rekonstruieren, was er gesagt haben könnte. Es dämmert mir. Das war ein Kompliment. Was jetzt? Ich drücke einen Dank heraus, gebe ihm ein steifes Julia Roberts-Bananengrinsen mit auf den Weg, drehe mich um und finde nach kurzer Zeit, wie ein aus dem Takt geratener Metronom, wieder in meinen Rhythmus zurück.

Zu Hause habe ich mir für diese unreife Leistung ordentlich auf die Schulter geklopft. Wie alt bin ich? 25? Möglicherweise hatte die Kassiererin letztens doch den richtigen Riecher, als sie mich beim versuchten Kauf zweier Flensburger dunkel nach meinem Ausweis fragte. Am nächsten Tag erzählte ich meiner besten Freundin, die nicht dabei war, weil sie in Berlin lebt und meiner Mutter von diesem akuten Selbstbewusstseinsschwund. Neles, von Tränen lachenden Smileys gesäumter, Kommentar: „Hätte original ich gewesen sein können.“ Auf die ist Verlass. Meine Ma verstand das ganze Theater, vor allem unter dem Aspekt meiner sonst so großen Fresse, überhaupt nicht und erklärte mir mit der Weisheit von 51 Jahren gelebten Lebens, dass ich dem jungen Mann einfach mit einem „Danke, das ist sehr lieb von dir“ hätte begegnen sollen.

Ja, voll einfach. Super Mama! Ich fühlte mich ertappt. Es ist in der Tat simpel. Trotzdem benehme ich mich, wie der letzte Pfosten, sobald ich mit Komplimenten konfrontiert werde. Natürlich weiß ich, warum das so ist. Wider besseres Wissen schaffe ich es dennoch nicht jene spontanen „Schwachheiten“ gänzlich abzulegen.

Ich befinde mich inmitten eines Spannungsfeldes. Mein Selbstbewusstsein schwankt permanent zwischen Body Positivity und Negativity. Zwischen dem, was ich weiß und dem, was mir anhängt: Altlasten. Ich weiß, dass einige meiner Freundinnen, clevere, coole, laute Frauen mit ähnlichen Problemen kämpfen. Als Kolumnistin dieser Plattform, inmitten des medialen Women’s Empowerment, fühle ich mich beinahe wie eine Verräterin an der eigenen Sache, wenn ich einem Mann oder auch anderen Frauen, wie eine Präpubertäre begegne oder anerkennendes Lob über erbrachte Leistungen schmälere.

Ob das häufig passiert? Nein, aber eben manchmal. Dann kann es sogar sein, dass ich Panik bekomme, rot werde und/oder anfange zu schwitzen, weil ich mich, wie Sia weiß, nicht mehr unter contro-o-ol habe. Heute fühle ich mich wohl in meiner Haut, trotzdem bricht die Sau ab und an aus. Dann kommen die alten Selbstzweifel hoch und ergreifen für einen Moment das Ruder. Es gibt Zeiten, in denen ich am liebsten unsichtbar wäre, mich klein fühle und das Gefühl habe nicht gut genug (für alles) zu sein, obwohl mich mein Umfeld erfahrungsgemäß als tough und selbstbewusst wahrnimmt. Wir können, denke ich, ehrlich miteinander sein:

An Tagen, wie diesen hilft kein Make-up. Auch, wenn sich dieses Gerücht hartnäckig hält, ändert das nichts an der Tatsache, dass es Bullshit ist.

Es war nicht nur der kleine Zwischenfall mit dem Schnitzel-Dude von neulich, der mich auf das heutige Thema gebracht hat. Eine meiner ältesten Freundinnen beichtete mir vor Kurzem, dass sie seit mittlerweile zehn Jahren ein Kalorientagebuch führt. Ganze Romane manisch gefüllt mit Zahlen. Mir fiel die Kinnlade bis auf den Boden. Wie konnte ich das nicht bemerken? Ein anderer meiner Schätze springt mit Anlauf von einem schwarzen Loch zum Nächsten. Sie ist der witzigste und geistreichste Mensch, den ich kenne. Trotzdem kämpft sie jeden Tag mit ihrem Spiegelbild, der Haustür, dem „normalen“ Leben. Niemand hat es bisher geschafft sie herausziehen. Familie und Freunde können bloß am Rand sitzen, zu ihr hinunterschauen und zuhören. Wir alle tragen unser Päckchen. Der eine weiß es besser zu verstecken, nimmt es leichter, als der andere. Wer sich in diesen Worten wieder erkennt, ist hoffentlich daran erinnert worden, dass er mit seinen Problemen, Neurosen und Macken nicht alleine ist. Wir haben sie doch alle nicht alle. Und dank meiner Mama wissen wir jetzt wenigstens, wie wir cool auf das nächste Kompliment reagieren (Tusch, dann eingespieltes Sitcom-Gelächter).