Sonntags-Kolumne: DER MORGEN DANACH

Einige Wochen schon wird in meiner WG gedatet bis zum Umfallen. Wann der Startschuss fiel, weiß ich nicht mehr genau. Seit Tag X gibt es jedenfalls aufgrund mehrerer unumstößlicher Naturgesetze nur noch ein vorherrschendes Thema. Der ganze Spaß setzt sich schließlich zu 55 Prozent aus ihm oder ihr und zu 45 Prozent aus Gesprächen mit den Girls zusammen. Details werden gnadenlos ausgeschlachtet, jede Peinlichkeit wird gebeichtet, kein zweideutiges Signal bleibt unüberinterpretiert. Privatsphäre ist nicht in den Nebenkosten enthalten. Selbst wenn sie es wäre, blieben die Wände zu dünn.


In unserer WG im fünften Stock leben wir seither in einer Wolke aus Östrogen, die unser Gehirn vernebelt und einfache Fragen unlösbar erscheinen lässt. Diese werden vor dem Plenum – das meist auf dem Balkon sitzt und Wein oder Martini trinkt – zur Diskussion gestellt. Haare offen oder zusammen? Ist er nicht so groß: Stiefeletten oder doch besser Sneaker? Sollte er hier pennen, schminke ich mich dann ab? Banalitäten, bis auf den letzten Punkt. Denn was tun mit dem Sexgesicht am Morgen danach? Ja was eigentlich?

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Sexgesicht klingt zunächst pornös, meint aber eigentlich nur die sachliche Betrachtung der Auswirkungen von Alkohol, Küssen, Feiern, Lachen, Schwitzen, Sex und Schlafen auf das Make-up. TÜV geprüfte Qualitätsmerkmale für eine erfolgreiche Nacht wären unter anderem im ganzen Gesicht verteilte abgebröckelte Mascara, durch die Erosion grau verfärbter, eingetrockneter Concealer sowie eine fettige T-Zone. Selbst ein No-Make-up Make-up hält dieser Belastung nicht stand und verwandelt sich spätestens ab Runde zwei in eine Grunge-Maske. In der Theorie könnte dieser Heroine-Look die Stimmung anheizen. Ein Blick zwischendurch in den Spiegel hat mich jedoch meistens bedauern lassen das Licht nicht ausgemacht zu haben: „Ah ja, so siehst du also dabei aus. Gar nicht mal so sexy, wie in deiner Vorstellung Thiele“.

Schminkt man sich die Make-up-Entfernung also besser ab oder setzt man auf Echtheitsgefühl?

Eine meiner Mitbewohnerinnen fand sich kürzlich mit genau dieser Frage konfrontiert. Ihr Date wollte zum Kochen zu uns kommen. Jenseits der 20 ist kochen das Synonym für Filme gucken. Die solidarische Vor- und Nachbereitung ist dabei Pflicht und oberstes Freundschaftsgebot. So bereiteten wir uns gemeinschaftlich beim Schminken auf die bevorstehende (Küchen)-Action vor. Als Älteste wurde ich von meiner WG zur Milf gekrönt (nein ich bin nicht Mutter). Es handelt sich hierbei um ein offizielles Amt und ist mit einigen Pflichten verbunden. So z. B. mit dem Unterweisen der richtigen Schminktechniken, dem Leasing verschiedenster Make-up-Tools sowie der sexualtherapeutischen Betreuung. Während ich also an diesem Abend damit beschäftigt war Face & Body in die Haut meiner Mitbewohnerin einzuarbeiten, fragte sie mich: „Sarooo, was würdest du machen? Würdest du dich abschminken?“ Da sie normalerweise nicht viel Zeit auf ein perfektes Make-up verwendet, beschlich mich die Vermutung, dass sich mehr Frauen über den Morgen danach Gedanken machen, als ich bisher angenommen hatte. Meine Antwort lautete: „Findet mich ein Typ ungeschminkt ungeil, kann er es sich das nächste Mal ja wieder selber machen!“ Ich lege keinen gesteigerten Wert darauf, die Vorstellung der Frau, die nicht kacken geht, dieser absurden Dystopie, zu entsprechen. Zumal der Mundgeruch des Prinzen nach dem Aufwachen selbst Aurora Tränen in die Augen treiben und beider Sehkraft einschränken würde.

Ob Fisherman’s Friend neben dem Bett deponiert werden oder eine Lip and Cheek Butter ist jedem Girl selbst überlassen.

Die Hauptsache ist, dass wir an erster Stelle stehen und uns mit unserem Sexgesicht wohlfühlen. Der Spaß steht an erster Stelle und Burger essen ist ja auch nur geil, wenn man sich dabei richtig vollsaut, womit Kollateralschäden am Make-up ein zu verschmerzender Preis sind. In jener Nacht in der WG im fünften Stock wurde jedenfalls wenig geschlafen. Ich erinnere mich, wie meine Mitbewohnerin irgendwann ins Badezimmer entschwand. Dort entledigte sie sich der Reste der Face & Body. Ich stellte am nächsten Morgen fest, dass ich ein passives Sexgesicht hatte und trug meine Augenringe mit Milfstolz zur Arbeit.

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Credit: Sarah Thiele, The Original Copy, Instagram